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Der lokale Reiseführer,
an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, war ein Idealist,
ein Träumer. Eigentlich war er ein Poet, den es glücklich
machte, dass wir vom Norden des Landes gekommen waren, um den Rhythmus
des Baikalsees zu fühlen und "für unser weiteres
Leben mitzunehmen". Er sagte: "Euch wird der Rhythmus
und das Gefühl unseres Meeres ab jetzt immer begleiten. Wer
einmal hier her kommt und die einzigartige Mischung von Mystik,
Realität und die Macht der Natur spürt, kann das nie wieder
vergessen oder verdrängen - es begleitet einen ein Leben lang."
Während
der Schifffahrt aß ich meine ersten Sushi - rohen Omul, einen
lachsartigen, sehr leckeren Süßwasserfisch, und trank
das durchsichtige Wasser aus dem Meer. Es wurde einfach mit einem
Eimer aus dem See gezogen und sofort an uns weitergereicht. Ich
kann mich an den Geschmack des Wasser noch gut erinnern - er war
wie destilliertes Wasser, ohne irgendeinen speziellen Nebengeschmack,
nur viel kühler. Mein Mund wurde weich und auf den Zähnen
bildete sich ein Film. Obwohl wir nur einen Tag vorher in Irkutsk
waren und wir die nicht sonderlich interessante Industriestadt wegen
ihrer mächtigen Fabriken und Produktionshallen als Wunder unseres
damaligen politischen Systems angesehen hatten und wir auf dem Weg
zum Baikalsee an den unendlich langen Schloten der Zellulosefabrik
vorbeigefahren waren, war ich der Überzeugung, das sauberste
und reinste Wasser der Erde zu trinken.
Die
langsame aber sichere Umweltkatastrophe
Schon seit dem
Produktionsbeginn im Jahre 1966 gilt die riesige Papier- und Zellulosefabrik
als einer der Hauptverschmutzer des Sees. Gebaut wurde sie ursprünglich
als ein typisches Produkt des Kalten Krieges, um bei einem eventuellen
US Embargo die UDSSR mit der für Raketen und Flugzeugbau wichtigen
Zellulose zu versorgen. Deshalb nahmen alle sowjetischen und später
russischen Umweltgesetze und Schutzbestimmungen das Werk stets aus.
Bis zum heutigen Tag produziert die Fabrik täglich nicht nur
440 Tonnen Zellulose, sondern auch 210.000 Kubikmeter Abwasser,
die nahezu ungeklärt in den See geleitet werden.
Die über
dreißig Jahre andauernden Schadstoffeinleitungen der Fabrik
hatten die einzigartige Flora und Fauna des Sees stark dezimiert:
Die Zahl der wirbellosen Tierarten im See ist von 47 auf nur acht
zurückgegangen. Die Krebse sterben früher und bei Mikroorganismen
treten häufig Mutationen auf. Die Verschmutzung des Sees erreichte
1987 einen Höhepunkt, als die nur am Baikalsee lebenden Süßwasserrobben
an einer Virusepidemie erkrankten und massenweise starben. Chlorchemikalien,
die von der Fabrik stammten, hatten das Immunsystem der Robben vernichtet.
Inzwischen ist das ehemalige Kombinat privatisiert, die Anteile
gehören zu 51 Prozent den 3.000 Beschäftigten der Fabrik.
Doch geändert hat sich deshalb nichts. Noch immer fließen
die Abwässer fast ungeklärt in den See, da die Russische
Regierung gleichzeitig mit der Privatisierung des Werks eine neue
Frist für einen Produktionsstopp beschlossen hat. Vor
fünf Jahren wurde ein Plan entwickelt, die veraltete Technik
der Fabrik auszutauschen und einen geschlossenen Wasserkreislauf
einzurichten. Dieses 250 Millionen Euro teure Projekt liegt bis
jetzt leider irgendwo in einer Schublade. Auch rund 36 Zuflüsse
sind dabei, auszutrocknen, weil die Industrie und vor allem das
Bratskas Wasserkraftwerk zu viel Wasser benötigt.
Die Einmaligkeit
und besondere Schutzwürdigkeit des Sees erkannte man bereits
zu Anfang unseres Jahrhunderts. 1916 etablierte Zar Nikolai II.
das erste Naturschutzgebiet. Der Anfang war gemacht, aber dann passierte
lange Zeit nichts. Die Städte im Einzugsgebiet des Sees wuchsen
schneller als ihre Kanalisationen und die Abwässer flossen
ungeklärt in den See. Am Anfang der siebziger Jahre wurden
neue Anstrengungen unternommen. Das Baykalsij Naturschutzgebiet
und eine ganze Reihe von Reservaten entstanden.
Das Jahr 1986
markierte einen ersten Meilenstein für ein umfassendes Konzept:
Im Rahmen des UNESCO Programms "Mensch und Biosphäre"
erhielt der Baikalsee den Status eines Biosphärenreservats.
Damit werden umweltschädigende Aktivitäten zwar immer
noch weitaus weniger strengen Beschränkungen unterworfen als
in Naturschutzgebieten, dafür wurde aber erstmals die Region
als Ganzes für schutzwürdig erklärt. Für Länder
wie Russland, die ohnehin über begrenzte Mittel verfügen,
besteht auch ein Welterbe-Fond, aus dem technische Kooperationsprojekte
oder die Ausbildung von Fachpersonal bezuschusst werden können.
Die
Kraft des Sees
Valentin
Rasputin, einer der bedeutsamsten russischen Schriftsteller der
Gegenwart, der am Baikal geboren wurde und der Vorkämpfer der
ganzen Umweltbewegung dieser Region war, sagte vor kurzem, dass
er seinen politischen Kampf um den Baikalsee aufgegeben hat, da
es politische und wirtschaftliche Kräfte gibt, die stärker
sind als die Umweltbewegung. Trotzdem hat er eine optimistische
Prognose: "Dieser See hat so viel Kraft, dass er all die Attacken
der Menschen auf lange Sicht überleben wird."
Nach dem zwölftägigen
Aufenthalt in Sibirien war ich wieder zuhause. Doch muss ich zugeben,
dass die Reise nach Baikal für mich persönlich nie aufgehört
hat. Noch nach zwanzig Jahren denke ich über das Geheimnis
des Baikalsees nach und fühle in mir immer noch die mächtige
Ruhe und Kraft, die er ausstrahlt, seinen eigenen Rhythmus, den
er allen Lebewesen in sich und seiner Umgebung schon seit Jahrtausenden
vorgibt.
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